Hintergründe zum gemeinschaftlichen Wohnen – fünfter und letzter Teil

Nicht nur der Ort oder der Raum, sondern insbesondere die Tätigkeit beeinflusst massgeblich den Öffentlichkeitsgrad eines gemeinschaftlichen Raums. Im Bild sichtbar einen hoch öffentlichen Raum, der durch die Begrenzung der Mauer und der Versunkenheit ins Schachspiel sehr privat wirkt. Quelle: unbekannt.

Gastbeiträge zur Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnen
Susanne Schmid ist Partnerin bei Bürgi Schärer Architekten in Bern, sowie Autorin und Mitherausgeberin der Publikation «Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens». Sie hat für uns einen Abriss dieser Geschichte in fünf Beiträgen mit ausgewählten Beispielen geschrieben:

Teil 1 Historische Einordnung: Wie kollektive Wohnformen mit der industriellen Revolution zur Ausnahme wurden
Teil 2 Ökonomische Intentionen: Frauenwohnkolonien und Einküchenhäuser
Teil 3 Politische Intentionen: Architekten planen Gemeinschaft
Teil 4 Soziale Intentionen: Selbstorganisiertes Wohnen für neue Lebensformen
Teil 5 Ausblick: Warmbächli und andere neue Projekte

Danke vielmals Susanne für deine Inputs und deine Forschung zum Thema!

Nutzungsüberlagerung und Mehrfachnutzungen als suffiziente Lösung

Sämtliche Wohnmodelle des gemeinschaftlichen Wohnens, die in den vorherigen Blogbeiträgen vorgestellt wurden, arbeiten mit Verlagerung von Flächen. So werden Flächen aus dem privaten Bereich in den kollektiven oder öffentlichen Bereich verschoben und dort geteilt und gemeinschaftlich genutzt. Dabei spielen die Abgrenzungen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichem, respektive die Öffentlichkeitsgrade eine wichtige Rolle. Wobei gemeinschaftliche Räume nicht per se öffentlich sind, denn diese können durchaus auch einen privaten Charakter haben. So ist es zumeist die Tätigkeit, die ausgeübt wird, die dem Raum seinen Öffentlichkeitscharakter zuordnet (Arendt 1981: 59). Eine kollektive und durch eine Mehrfachnutzung erhöhte Nutzung eines Gästezimmers beispielsweise führt nicht dazu, dass dieses einen öffentlichen Charakter erhält, da die Tätigkeit, die darin ausgeübt wird, eine gänzlich individuelle und private bleibt. Das bedeutet, dass der gemeinschaftliche Raum an und für sich neutral ist und erst die Aktivität, die in diesen Räumen stattfindet, dessen Zuordnung betreffend Öffentlichkeitsgrade bestimmen.

Ähnlich verhält es sich mit dem Prinzip der Nutzungsüberlagerung. So kann ein Jokerzimmer unter anderem als Yoga-Übungsraum, für einen Lesezirkel oder als Spielzimmer für Kinder genutzt werden. Wie bei der Mehrfachnutzung ist auch bei der Nutzungsüberlagerung eine zeitlich begrenzte Nutzung sowie ein angemessener Zugang im Sinne von Verfügbarkeit relevant. Diese Art und Weise, Wohnräume zu teilen, schafft neben dem (reduzierten) privaten Wohnraum zusätzliche Nutzungsoptionen, die als räumliche Erweiterung verstanden werden können. Gut funktionierende Nutzungsoptionen führen zu Möglichkeitsräumen und bedeuten nicht nur, dass eine gewisse Anzahl und Bandbreite gemeinschaftlich genutzter Wohnräume vorhanden sind, sondern ebenso eine bestimmte Anzahl an Personen, die sich diese Wohnräume aneignen, bespielen und schlussendlich auch finanzieren. Dieses System an gemeinschaftlichen Räumen in unterschiedlichen Funktionen und Ausstattungen sowie diversen Nutzerinnen und Nutzer sorgt idealerweise für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Aneignung und Auslastung sowie zwischen Privatheit und Öffentlichkeit.

Herausforderungen im Wohnungsmarkt

Bewohnerschaft der Sargfabrik Wien um 1996 – so divers wie die gemeinschaftlichen Räume. Quelle: Europa, Gemeinsam Wohnen, wohnbund e. V. (Hg.).

Der demografische Wandel, sich verändernde Familienstrukturen sowie eine erhöhte Individualisierung und Mobilität sorgten in den letzten Jahrzehnten dafür, dass wir häufiger an verschiedenen Lebens- und Wohnformen partizipieren und sogenannte Wohnkarrieren durchleben. Im trägen und konservativ ausgerichteten Wohnungsmarkt werden jedoch immer noch praktisch ausschliesslich Familienwohnungen angeboten. Es fehlen neuartige Wohntypologien, die auf die gesellschaftlichen Veränderungen und auf den Wunsch nach mehr Gemeinschaft und Selbstbestimmung eingehen. Die gemeinschaftlichen Wohnprojekte versuchen denn auch, diese Lücke zu schliessen und schaffen mit neuen Grundrisslösungen und Organisationsstrukturen ein Neu-, respektive Weiterdenken des Zusammenlebens, der gängigen Wohnfunktionen und der Verbindung zwischen Wohnen und Arbeiten. Diese Angebote stehen für einen Zeitgeist, in dem postmaterielle Ziele wie Selbstverwirklichung, digitale Kommunikation sowie der erleichterte Zugang und die Verfügbarkeit analoger Güter anstatt deren Besitz im Vordergrund stehen. Nutzen ist wichtiger ist als Besitzen. Der private Raum ist oft nur noch Rückzugsort, als repräsentativer Ort verliert er zunehmend an Priorität. Als Gegensatz dazu wird die Gemeinschaft, respektive das Dazugehören zu einer Gemeinschaft, wichtig.

Bewohnerschaft von happypigeons, einem Co-Living Projekt in Berlin. Das Dazugehören zur Community ist genauso wichtig wie der private Wohnraum. Quelle: Instagram.

Das Bewusstsein für Themen wie Ökologie und Nachhaltigkeit verstärkten zudem die Diskussionen über den Wohnflächenverbrauch und haben Einfluss auf die Modelle des gemeinschaftlichen Wohnens. Hinzu kommt, dass sich durch die New Right eine Deregulierung und Privatisierung des Marktes einstellte, die insbesondere auf den städtischen Wohnungsmarkt in Mitteleuropa weitreichende Folgen hatten. Der Staat zog sich immer mehr aus dem Wohnungsmarkt zurück, während Baugenossenschaften oder weitere gemeinnützige Bauträger in das Vakuum traten und sich mit Wohnprojekten für mehr Solidarität und Gemeinschaftlichkeit einsetzten. In diesem angespannten Marktumfeld verstärkte sich zunehmend die Forderung der gemeinnützigen Bauträger, Wohnraum dauerhaft dem Markt und somit den Spekulationen zu entziehen. Sprich, die sozialen Intentionen des Teilens von Wohnraum werden zu Beginn des 21. Jahrhundert zusätzlich durch moralische und ökologische Ansprüche verstärkt.

Schon bei den Boarding- und Apartementhäuser der frühen 1920er und 1930er Jahren galt das Rationalisieren als wichtiges Entwurfsthema. In dieser Phase war dieser Anspruch jedoch nicht ökologisch, sondern ökonomisch begründet. Hier die Bewohnerschaft des Isokon Buildings in London. Quelle: Architektur zwischen Kunst und Wissenschaft, Jeanette Fabian und Ulrich Widko (Hrsg.).

Gemeinschaftliches Wohnen als eine mögliche Antwort

Nicht nur an der Güterstrasse 8 werden die hier erwähnten Themen neu verhandelt und räumlich umgesetzt. So werden insbesondere in deutschsprachigen Städten Wohnobjekt mit innovativen Raumprogrammen und gemeinschaftlichen Wohnräumen, die weit über die bekannten und üblichen Gemeinschaftsräumen hinausgehen und ein neues räumliches und soziales Zusammenwohnen denken, ins bestehende städtische Leben integriert. Wie beim Warmbächli werden oft ganze Stadtquartiere erneuert, in denen das gemeinschaftliche Wohnen in unterschiedlichen Formen eingeflochten und eingestreut wird. So werden neben einen Prozentsatz an Familienwohnungen auch Kleinwohnungen für Personen in der Vor- oder Nachfamilienphase angeboten, Clusterwohnungen oder Grosshaushalte mit flexiblen Grundrissen, Jokerzimmer oder sogenannte Weisse Zimmer als Ergänzung zum reduzierten Privatraum sowie geförderte Wohnungen für finanzschwache Haushalte. Ziel dabei ist es, und dies ist eher ein neues Phänomen des gemeinschaftlichen Wohnens, eine möglichst grosse und vielfältige Bandbreite von Bewohnerinnen und Bewohner anzuziehen, die im Sinne eines Generationenwohnen die Infrastruktur reichhaltig nutzen, sich gegenseitig unterstützen und so die Gemeinschaft langfristig stärken.

Ein Teil der zukünftigen Warmbächli-Bewohnerschaft beim Spatenstichfest.
Foto: Daniel Kaufmann

Wohnen und Gemeinschaft sind eng miteinander verbunden. Doch erst seit sich mit der Industrialisierung jahrhundertealte Organisationsstrukturen des Wohnens und Wirtschaftens auflösten, erhält das gemeinschaftliche Wohnen eine neue Bedeutung, die zu erklären ist. Dabei sind die Gründe, Wohnraum zu teilen, ebenso kulturell geprägt wie der Wunsch nach dem konventionellen Wohnen. Im Vergleich zum herkömmlichen Wohnen wird gemeinschaftliches Wohnen jedoch oft bewusster gewählt. Kollektive Wohnmodelle beinhalten deshalb meist eine Kritik an den vorherrschenden konservativen Bildern des Zusammenlebens und lassen gesellschaftliche Prozesse erkennen, die sich räumlich ausformulieren und Entwicklungen bezüglich Lebens- und Haushaltsweisen in gebauter Form sichtbar machen. Der bewusst gefällte Entscheid, gemeinschaftlicher zu Wohnen sowie die daraus resultierenden kollektiven Wohnmodelle können somit als Antwort auf gesellschaftliche Veränderungen gesehen werden. So nimmt das gemeinschaftliche Wohnen in der gesamten Wohnbaugeschichte eine bedeutende Rolle im Sinne einer Reflexion ein.

An dieser Stelle bedanke ich mich für die Möglichkeit der Gastbeiträge in diesem Baublog. Ich wünsche allen Projektbeteiligten und vor allem der zukünftigen Bewohnerschaft gutes Gelingen und einen lebendigen Kosmos an der Güterstrasse 8.

Literatur

Arendt, Hanna 1981: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper.

Hintergründe zum gemeinschaftlichen Wohnen – Teil 4

Mit der sozialen Intention wird das gemeinschaftliche Wohnen kommunikativer, vernetzter und vielfältiger, hier sichtbar am Beispiel des Kollektivhauses Färdknäppen in Stockholm.
Quelle: Kerstin Kärnekull.

Gastbeiträge zur Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnen
Susanne Schmid ist Partnerin bei Bürgi Schärer Architekten in Bern, sowie Autorin und Mitherausgeberin der Publikation «Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens». Sie hat für uns einen Abriss dieser Geschichte in fünf Beiträgen mit ausgewählten Beispielen geschrieben:

Teil 1 Historische Einordnung: Wie kollektive Wohnformen mit der industriellen Revolution zur Ausnahme wurden
Teil 2 Ökonomische Intentionen: Frauenwohnkolonien und Einküchenhäuser
Teil 3 Politische Intentionen: Architekten planen Gemeinschaft
Teil 4 Soziale Intentionen: Selbstorganisiertes Wohnen für neue Lebensformen
Teil 5 Ausblick: Warmbächli und andere neue Projekte

Danke vielmals Susanne für deine Inputs und deine Forschung zum Thema!

Gemeinschaftliches Wohnen wird zum Ausdruck von sich veränderten Sozialbeziehungen

Ab den 1970er-Jahren wird erstmals Kommunikation, also ein soziales Motiv des Teilens, als Bedürfnis beim gemeinschaftlichen Wohnen genannt (Meyer-Ehlers, Haussknecht, Rughöft 1973: 230). So trat der deutliche Wunsch nach Gemeinschaftlichkeit erst mit der vorerst letzten Phase der sozialen Intention in den Vordergrund, die mit neuen Wohnmodellen um rund 1980 startete und bis heute anhält. Gemeinschaftliches Wohnen wird in dieser sich weiterhin diversifizierenden Entwicklungsphase kommunikativer, vernetzter und vielfältiger. Nicht nur die Nutzergruppen des gemeinschaftlichen Wohnens werden bunter, sondern auch die angebotenen gemeinschaftlichen Wohnräume und Ausstattungen. Dabei können die gemeinschaftlichen Wohnmodelle wie folgt gegliedert werden: Wohn- und Kulturprojekte als Ausdruck der Gemeinschaft, Grosshaushalte und Clusterwohnungen mit zusätzlichen Serviceleistungen sowie Co-Living als vernetztes und dezentrales Wohnen.

Teilhabe und Teilnahme als Programm


Blick in den gemeinschaftlichen Esssaal des Grosshaushaltes Karthago in Zürich.
Quelle: Arazebra, Zürich.

Mit der sozialen Intention wurde nun gemeinschaftliches Wohnen erstmals zum Ausdrucksmittel für flexible Sozialbeziehungen und mehr Mitbestimmung. Die Wohnobjekte sind meist selbstorganisiert, die Bewohnerschaft nimmt Einfluss auf die Ausformulierung der Wohnform und -typologie. Zudem kam ab den 1970er- und 1980er-Jahren das Bedürfnis auf, aus der familiären Isolation auszubrechen, was zu veränderten und diversifizierenden Lebens- und Wohnformen führte. Weitere Parameter, die das Wohnen in Gemeinschaft stärken, waren der Wunsch nach Suffizienz und einem bedarfsgerechten Umgang mit der Ressource Wohnraum sowie neue Arbeitsweisen dank der Digitalisierung. Geteilt werden nun nicht nur ein breites Angebot an gemeinschaftlichen Räumen für die Freizeitbeschäftigung wie Werkstätte, Saunas oder Fotolabore, sondern wiederum Grundausstattungen wie Gemeinschaftsküchen und Nasszellen. Gästezimmer, Flex-Zimmer oder Waschbars sind prägend für diese Entwicklungsphase. Zudem erhalten die Serviceleistungen, nachdem diese in der Phase der politischen Intention gänzlich verschwanden, aufs Neue eine hohe Wichtigkeit.

Diese Komplexität an unterschiedlichen Stufen des Teilens führt denn auch dazu, dass das gemeinschaftliche Zusammenleben oft mittels einer professionellen Betriebsstruktur und mit Hilfe einer Desk oder Rezeption kuratiert wird. Partizipative Prozesse der Teilhabe und Teilnahme sorgen zudem dafür, dass die Wohnmodelle und deren Organisation auf die Bedürfnisse der Nutzerschaft angepasst werden. Zu erwähnen gilt noch, dass die Nutzergruppen vorwiegend aus dem Bildungsmilieu stammen. Da sich insbesondere Grosshaushalte und Clusterwohnungen gut in grössere Siedlungen einstreuen lassen, eignet sich zudem ein Zusammenspiel von unterschiedlichen Wohnmodellen, kombiniert mit konventionellen Wohnungen, auch gut als Generationenwohnen.

Grosshaushalte – der erkämpfte Freiraum

Grosshaushalt mit Kleinküche und gemeinschaftlichem Aufenthaltsbereich.
Quelle: gta Archiv / ETH Zürich.

Mit den Grosshaushalten werden erstmals seit den Zwischenkriegsjahren wieder Wohnungen ohne individuell nutzbare Küchen gebaut. Kurz vor der Jahrtausendwende erscheint ein gemeinschaftliches Wohnmodell, das den privaten Raum wieder stark reduziert und die Grundausstattung kollektiviert. Beim Prinzip der Grosshaushalte werden dabei Funktionen wie Kochen, Essen und Aufenthalt in gemeinschaftlichen Räumen mit unterschiedlichen Öffentlichkeitsgraden ausgelagert.

Aus einer Jugendbewegung der 1980er-Jahre heraus, die mehr bezahlbaren Wohnraum sowie Freiraum für junge Personen forderte, entwickelte sich in Zürich der Grosshaushalt Karthago, der nach einer langen Entwicklungsphase 1997 realisiert wurde. Als Bauträgerin dient eine Genossenschaft. Im Grosshaushalt Karthago werden vier kleine und fünf grosse Wohngruppen sowie eine Mansardenwohnung angeboten, in denen rund 55 Personen wohnen. Die Wohngruppen sind unterteilt in Drei-, Vier- oder Sechszimmereinheiten, die sich um einen gemeinschaftlichen Wohn- und Essraum mit Kleinküche und gemeinschaftlicher Nasszelle formieren. Einzig das individuelle Zimmer wird nicht geteilt, ist jedoch durch die kollektive Fläche erschlossen. Ausserhalb dieser Wohngruppe befinden sich weitere ergänzende Ausstattungen und gemeinschaftliche Wohnräume wie eine Grossküche mit Essraum (gekocht wird von einer Köchin), einem Spiel- und Aufenthaltsraum, einem Gästezimmer, einem Werkraum, einem Gemeinschaftsbüro sowie zwei Musikräumen.

Das Erdgeschoss ist gänzlich gemeinschaftlich organisiert. In den Regelschossen werden je zwei Grosshaushalte angeboten, mit unterschiedlich grossen individuellen Zimmern.
Quelle: Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens.

Clusterwohnungen – die Wohngemeinschaft plus

Ein Optionsraum bei der Siedlung Spreefeld in Berlin.
Quelle: Andrea Kroth.

Erste Clusterwohnungen haben ihren Ursprung ebenfalls in den 1980er-Jahren, die Typologie wird jedoch erst ab den 2010er-Jahren wahrgenommen. Ähnlich der Grosshaushalte ist auch bei den Clusterwohnungen prägendes Element die Reduktion des privaten Wohnraums einhergehend mit einer Kompensation durch gemeinschaftliche Räume. Bei Clusterwohnungen bilden Teil-Wohneinheiten zusammen mit den gemeinschaftlichen Räumen wie Gemeinschaftsküche oder Aufenthaltsbereiche eine voll ausgestattete Einheit. Typologisch gesehen haben die Cluster eine hotelähnliche Struktur, da diese mit einer Vorzone oft mit Kleinküche und individueller Nasszelle ausgestattet sind. Mit dieser Vorzone wird zugleich ein Schwellenraum geschaffen, der zwischen den kollektiven und privaten Flächen vermittelt.

Wohnbereich einer Clusterwohnung.
Quelle: Andrea Kroth.

Während das Konzept der Clusterwohnungen auch als komfortable Wohngemeinschaft deklariert werden kann, sprechen die Initiatoren der Siedlung Spreefeld in Berlin von einem spartanischen Ausstattungsstandard. Das ebenfalls genossenschaftlich organisierte Spreefeld bietet seit dem Jahr 2014 für rund 140 Personen variantenreiche Wohnräume. Dabei ist rund die Hälfte der Wohnungen konventionelle Ein- bis Fünfzimmerwohnungen. Auffallend sind jedoch die Clusterwohnungen, die in diesem Objekt grösser ausfallen als bei Projekten in der Schweiz. Dies aufgrund der Anzahl Cluster sowie deren Fläche, die jeweils an die gemeinschaftlichen Räume angegliedert sind. Während bei uns meist sechs oder sieben Cluster um die gemeinschaftlichen Flächen angeordnet werden, sind es bei der Siedlung Spreefeld deren neun. Zudem verlaufen die Clusterwohnungen jeweils über zwei Geschosse. Ebenfalls neu ist bei der Siedlung Spreefeld, dass Clusterwohnungen mit drei oder vier Zimmer angeboten werden, üblich sind jeweils ein oder zwei Zimmer pro Cluster.

Als Ergänzung für die gesamte Siedlung dienen gemeinschaftliche Räume wie Co-Working Spaces, Gästezimmer, ein Musik- und Jugendraum, ein Fitnessraum, eine Waschküche sowie Dachterrasse oder die sogenannten Optionsräume, die nicht nur der Bewohnerschaft, sondern der gesamten Quartierbevölkerung für diverse temporäre Nutzungen zur Verfügung stehen (LaFond/Tsvetkova 2017: 38).

1. Obergeschoss der Siedlung Spreefeld
2. Obergeschoss der Siedlung Spreefeld: Hier wird ersichtlich, wie sich die Clusterwohnungen über zwei Geschosse formulieren.
Quelle: Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens.

Co-Living – die kreativen Knotenpunkte

Co-Working Bereich beim Co-Living Old Oak in London, der öffentlich zugänglich ist.
Quelle: The Collective.

Schon Grosshaushalte und Clusterwohnungen zeigen erste Ansätze zu einem räumlich verteilten Wohnen, bei dem der individuelle Raum durch Nutzungsoptionen und mögliche Serviceleistungen vielfältig und flexibel ergänzt wird. Beim Co-Living verteilen sich gemeinschaftliche Wohnräume und Funktionen nun weiter, zudem wird das Wohnen wiederum in Verflechtung mit Arbeiten wahrgenommen. Dieses erweiterte Verständnis des Wohnens lässt vermuten, dass die Bewohnerschaft heterogener wird. Erste realisierte Projekte ab den 2010er-Jahren deuten allerdings auf eine sehr homogene Nutzerschaft hin, besonders junge Berufstätige, sogenannte Yuppies (young urban professionals) finden dieses Wohnmodell attraktiv und nutzen es, um sich in einer Stadt anzusiedeln und dort in der Gemeinschaft zu leben.

Private Wohneinheit mit Kleinküche.
Quelle: The Collective.

Typologisch ist das Co-Living den Clusterwohnungen ähnlich, da wiederum hotelähnliche und reduzierte Wohneinheiten den privaten Wohnbereich bilden. Ebenso ist eine Rückbesinnung auf die Boarding- und Apartmenthäuser aus dem frühen 20. Jahrhundert spürbar, denn die gemeinschaftlichen Räume werden zu vernetzten Knotenpunkte, in denen die oft international ausgerichtete Bewohnerschaft die Balance zwischen dem reduzierten privaten Raum und den umfangreichen angebotenen Serviceleistungen findet.

Mit dem Co-Living Old Oak realisierte die Organisation The Collective im Jahr 2016 ihr erstes Wohnbauprojekt in London. Bisher betrieb die Organisation ausschliesslich Co-Working Places, weitere Projekte in Verbindung mit Co-Living sind jedoch in Planung. Das Co-Living Old Oak wurde als eines der wenigen Co-Living Projekte als Neubau konzipiert und stellt Wohnfläche für rund 550 Personen zur Verfügung. Es werden unterschiedliche individuelle Wohneinheiten angeboten, wobei die meisten zu der kollektiven Erschliessungsfläche hin eine vorgelagerte Zwischenzone mit Nasszelle und Kleinküche aufweisen. Die private Wohnfläche wird möbliert vermietet.

Beim Regelschoss im Old Oak wird die hotelähnliche Typologie sichtbar.
Quelle: Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens.
Das Erdgeschoss beim Old Oak ist wiederum gemeinschaftlich organisiert, im Vergleich zum Grosshaushalt Karthago jedoch öffentlich zugänglich.
Quelle: Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens.

Es gibt umfangreiche ergänzende gemeinschaftliche Flächen wie Gemeinschaftsküchen mit Ess- und Aufenthaltsbereichen auf jedem Geschoss, die bei Bedarf für private Anlässe genutzt werden können. Im Weiteren finden sich verteilt über die Geschosse eine Bibliothek, einen Raum der Stille, ein Kino, ein Game Room, ein Spa und eine Waschküche. Im Erdgeschoss als öffentlichster Bereich werden ein Restaurant, einen Eventraum, ein Fitnessstudio sowie die Co-Working Places angeboten.

Literatur

LaFond, Michael; Tsvetkova, Larisa 2017: CoHousing Inclusive, Selbstorganisiertes, gemeinschaftliches Wohnen für alle. Berlin: Jovis Verlag.
Meyer-Ehlers, Grete; Haussknecht, Meinhold; Rughöft Sigrid 1973: Kollektive Wohnformen, Erfahrungen, Vorstellungen, Raumbedürfnisse in Wohngemeinschaften, Wohngruppen und Wohnverbänden. Wiesbaden: Bauverlag.

Hintergründe zum gemeinschaftlichen Wohnen – Teil 3

Beim 4. CIAM Kongress (hier unterwegs im Schiff zwischen Marseille und Athen) wurde die Charta von Athen erarbeitet, welche die Funktionstrennung zwischen Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Verkehr forderte. Quelle: gta Archiv / ETH Zürich.

Gastbeiträge zur Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnen
Susanne Schmid ist Partnerin bei Bürgi Schärer Architekten in Bern, sowie Autorin und Mitherausgeberin der Publikation «Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens». Sie hat für uns einen Abriss dieser Geschichte in fünf Beiträgen mit ausgewählten Beispielen geschrieben:

Teil 1 Historische Einordnung: Wie kollektive Wohnformen mit der industriellen Revolution zur Ausnahme wurden
Teil 2 Ökonomische Intentionen: Frauenwohnkolonien und Einküchenhäuser
Teil 3 Politische Intentionen: Architekten planen Gemeinschaft
Teil 4 Soziale Intentionen: Selbstorganisiertes Wohnen für neue Lebensformen
Teil 5 Ausblick: Warmbächli und andere neue Projekte

Danke vielmals Susanne für deine Inputs und deine Forschung zum Thema!

Politische folgen auf ökonomische Intentionen für gemeinschaftliche Wohnmodelle

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es eine vielseitige Palette an gemeinschaftlichen Wohnmodellen. Dabei basierten die Ledigen-, Boarding- sowie Einküchenhäuser mehrheitlich auf ökonomischen Intentionen. Ziel war nicht, gemeinschaftlich zu Wohnen, sondern durch einen Zusammenschluss bezahlbaren Wohnraum zu schaffen und die Haushaltsarbeiten zu kollektivieren. Mit den Gartenstädten und Wohnhöfen lief anfänglich parallel dazu auch die Entwicklungslinie von gemeinschaftlichen Wohnmodellen, welche die politische Intention beförderten. Aufgrund dem Erstarken der sozialistischen und sozialdemokratischen Bewegung im frühen 20. Jahrhundert galt das Ziel, die Entproletarisierung und Besserstellung der Arbeiterschaft zu bewirken sowie die Kernfamilie zu stärken und diese in der Gesellschaft zu festigen. Die Entwicklungsphase der politischen Intention lief mit den Gemeinschaftssiedlungen und den Wohnkooperationen auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiter und kann bis in die 1980er Jahre verortet werden.

Bei den Gartenstädten und Wohnhöfe wurde der Hof als Aussenwohnraum entdeckt, wie hier bei der Hufeisensiedlung Britz in Berlin. Quelle: ullstein bild – Schnellbacher.

Grundprinzip dieser Wohnmodelle waren abgeschlossene und selbständig funktionierende Wohnräume für jede Familie, die durch gemeinschaftliche Folgeeinrichtungen ergänzt wurden. Geteilt wurden Einrichtungen wie Zentralwäschereien, Kinderkrippen, Gemeindezentren oder Versammlungsräume, wichtigster gemeinschaftlicher Raum hingegen war die Erschliessungsflächen und die Aussenfläche, die als Vorgarten, Hof oder Platz erstmals Nutzungen wie Selbstversorgung und Freizeitgestaltung zuliessen. Nach dem Zweiten Werkkrieg und einem verstärkten Rückzug in die Privatheit wurden jedoch oft Gemeinschaftsräume ohne Beteiligung der Bewohnerschaft initiiert und inszeniert. Neue Wohnformen für andere Nutzergruppen als die Kernfamilie wurden in dieser Phase kaum realisiert.

Das Wohnhochhaus Conjunto in Berlin

Ein abgelöster Erschliessungskern bedient beim Wohnhochhaus Conjunto in Berlin das Freigeschoss im 5. OG. Quelle: Landesarchiv Berlin.

Das von Oscar Niemeyer erbaute Wohnhochhaus, erstellt im Jahr 1957 im Rahmen der IBA Berlin im Hansa Viertel, ist ein klassischer Vertreter der Gemeinschaftssiedlungen. Diese waren geprägt vom Wiederaufbau in den Nachkriegsjahren. Politische Strömungen förderten nach dem Zweiten Weltkrieg einen gesellschaftlichen Rückzug in familiäre Strukturen und in die Privatheit der Familienwohnung. Dieses Klima führte zu eine Wohnbaupolitik, die vorwiegend funktionale Drei- und Vierzimmerwohnungen für Familien schuf. Die wenigen Wohnobjekte, die in dieser Zeit noch als Gemeinschaftssiedlungen realisiert wurden, bedienten sich zudem den architektonischen Ideologien der Zwischenkriegsjahre. Dabei galt das CIAM-Manifest Charta von Athen als richtungsweisend, in dem es die funktionale Entflechtung von Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Verkehr forderte. In der Phase der politischen Intention blieben die Wohnmodelle übrigens weiterhin grossmehrheitlich paternalistisch geplant und organisiert.

Das Freigeschoss beim Wohnhochhaus Conjunto blieb grösstenteils leer und unbenutzt. Quelle: Ulrich Greiner.
Die räumliche Anbindung an das Freigeschoss war zwar von den Wohnungen im 5.OG sehr unmittelbar, von den restlichen Wohnungen jedoch nur über die tageslichtlosen Erschliessungskernen gegeben. Quelle: Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens.

Mit der IBA Berlin im Jahr 1957 wurde denn auch von einer Architektur-Avantgarde neue Wohnkonzepte für das Zusammenleben der modernen Familie erprobt. Dabei kamen oft kollektive Erschliessungsflächen zum Tragen. Wie beim Wohnhochhaus Conjunto, das mit einem Freigeschoss versucht, der Bewohnerschaft eine Plattform für den gemeinschaftlichen Austausch zu geben. Die Überlegungen von Oscar Niemeyer (wie übrigens auch diejenigen von Le Corbusier) gehen zurück auf die Entwürfe der Kommunehäuser der Russischen Avantgarde, die mit rue intérieurs, Laubengängen oder Dachterrassen die Privatwohnung an das Gemeinschaftsleben knüpften. Oft wurde jedoch in der Weiterentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg der Gestaltung und der räumlichen Anbindung des Freigeschosses zu wenig Beachtung geschenkt. So auch beim Wohnhochhaus Conjunto. Es entwickelte sich von Anfang an nie ein Gemeinschaftsleben. Die Gründe dafür liegen unter anderem in der fehlenden Möblierung, da die Verwaltung der IBA die Einrichtung nach der Ausstellung wieder entfernen liess. Ein anderer Grund war wohl, dass das Freigeschoss ein zu undefinierter Raum war, der von den anderen Geschossen nur mit einer sehr knapp bemessenen internen Erschliessung ohne Tageslicht erreicht werden konnte.

Die Siedlung Overvecht-Noord in Utrecht

Mit den Stockwerkshallen konnte bei der Siedlung Overvecht-Noord ein gemeinschaftlicher Raum angeboten werden, der sich die Bewohnerschaft sehr rasch aneignete.
Quelle: Erwin Mühlestein.

Aus der Kritik der Gemeinschaftssiedlungen und dem Geist des Aufbruchs und der Emanzipation der späten 1960er-Jahren entwickelte sich das gemeinschaftliche Wohnmodell der Wohnkooperationen, die langsam auch selbstorganisierte Wohnobjekte hervorbrachten. Der Wertewandel zeigte sich auch in einem divergierenden Begriffsverständnis. Es wurde von alternativen und neuen Wohnformen gesprochen, oder aber vom kollektiven und kommunikativen Wohnen wie auch vom Co-Housing. Eines hatten die Wohnobjekte der Phase Wohnkooperationen jedoch gemeinsam: Sie richteten sich nach wie vor auf Familienwohnen aus. Die Kernfamilie wurde noch nicht in Frage gestellt, vielmehr öffnete sie sich hin zur Gesellschaft, wie das Beispiel der Siedlung Overvecht-Noord aufzeigt. Bei der 1971 fertiggestellten Siedlung wurden als erweiterte und gemeinschaftliche nutzbare Erschliessungsfläche sogenannte Stockwerkhallen initiiert, denen jeweils vier Familienwohnungen vorgelagert waren. Die Stockwerkhallen hatten durch die räumliche Anbindung einen persönlichen Bezug zur Bewohnerschaft und bildeten eine Zone zwischen Treppenhaus und privater Wohnung. So bildete sich in Absprachen etagenübergreifende Nutzungen wie Caféstuben oder Werkstätten. Weiter dienten die Stockwerkhallen als Kinderspielzimmer, gemeinschaftlicher Essraum oder als Bibliothek.

Die Bewohnerschaft gestaltete etagenweise unterschiedliche Nutzungen in den Stockwerkhallen. Quelle: Erwin Mühlestein.
Die Stockwerkhallen waren jeweils vier Wohnungen zugewiesen und dienten als Filter zwischen öffentlichen und privaten Raum. Quelle: Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens.

Architektur als Spiegel der gesellschaftlichen Zuordnung der Geschlechterrollen

Anhand Wohnmodellen und deren Grundrissgestaltung lassen sich gesellschaftliche Muster ablesen, dies zeigen insbesondere auch die gemeinschaftlichen Wohnobjekte aus der Phase der politischen Intention. Die mit Freigeschossen oder erweiterten Erschliessungsbereichen geschaffenen gemeinschaftlichen Räumen vergrösserten zwar den Radius der privaten Familienwohnung. Experten sprechen jedoch in dieser Epoche oft von einer dreifachen Isolation der Frau (insbesondere der Hausfrau): Diejenige am Stadtrand in einem Neubauquartier, diejenige in der Familienwohnung und schliesslich die Isolation in der kleinen funktional eingerichteten Arbeitsküche. Diese Erkenntnis und weitere gesellschaftliche Entwicklungen, die zu einer Öffnung der Kernfamilie hin zu freieren Haushalts- und Lebensformen führte, beförderte denn auch die soziale Intention des gemeinschaftlichen Wohnens, die vorerst letzte Intention in der Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens.

Hintergründe zum gemeinschaftlichen Wohnen – Teil 2

Sozialdemokratische und bürgerliche Frauenbewegungen förderten durch neue Wohnformen eine bessere Vereinbarung von Beruf, Familie und Haushalt. Hier ein Podium beim 1. Internationalen Frauenkongress 1915 in Den Haag mit Rosika Schwimmer (Vierte von links), die als Vordenkerin der Einküchenhäuser gilt. Quelle: Bestand AddF, Kassel.

Gastbeiträge zur Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnen
Susanne Schmid ist Partnerin bei Bürgi Schärer Architekten in Bern, sowie Autorin und Mitherausgeberin der Publikation «Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens». Sie hat für uns einen Abriss dieser Geschichte in fünf Beiträgen mit ausgewählten Beispielen geschrieben:

Teil 1 Historische Einordnung: Wie kollektive Wohnformen mit der industriellen Revolution zur Ausnahme wurden
Teil 2 Ökonomische Intentionen: Frauenwohnkolonien und Einküchenhäuser
Teil 3 Politische Intentionen: Architekten planen Gemeinschaft
Teil 4 Soziale Intentionen: Selbstorganisiertes Wohnen für neue Lebensformen
Teil 5 Ausblick: Warmbächli und andere neue Projekte

Danke vielmals Susanne für deine Inputs und deine Forschung zum Thema!

Die Intentionen des gemeinschaftlichen Wohnens

Wohnräume werden aus zahlreichen Gründen geteilt, in denen ökonomische, politische und soziale Faktoren immer eine wichtige Rolle spielen. Diese Faktoren werden jedoch je nach Zeitpunkt und Zielsetzung des Wohnmodells unterschiedlich gewichtet. Auch überschneiden sich diese, so dass eine genau Zuordnung nicht vorgenommen werden kann. Und dennoch tritt jeweils eine Intention aufgrund des vorherrschenden Zeitgeistes und den damaligen wohnpolitischen Entwicklungen in den Vordergrund.

Die Ursprünge des gemeinschaftlichen Wohnens seit der Industrialisierung liegen wohl in der ökonomischen Intention. Wie die Beispiele vom letzten Eintrag zeigen, war zwischen 1825 bis 1940 zentrales Motiv neben dem Bereitstellen von genügend Wohnraum insbesondere die Entlastung der Hausarbeit, spricht die Verringerung der Doppelbelastung der erwerbstätigen Frau. Das gemeinschaftliche Wohnen zeigte sich vor allem in der Zentralisierung und Rationalisierung und im Teilen von Serviceleistungen. Die sich verändernde gesellschaftliche Rolle der Frau war oft die treibende Kraft hinter den Wohnmodellen, insbesondere der Ledigenheime und Einküchenhäusern.

Die Frauenwohnkolonie in Zürich

Die Frauenwohnkolonie Lettenhof in Zürich war ein moderner Wohnkomplex für alleinstehende und berufstätige Frauen. Quelle: gta Archiv / ETH Zürich.

In Zürich beispielsweise ergriff schon relativ früh in dieser Entwicklung eine bürgerlich orientierte Frauenbewegung die Initiative zur Gründung der Frauenwohnkolonie Lettenhof, die 1927 von der Architektin Lux Guyer realisiert wurde. Der Lettenhof wurde als Komplex mit vier Gebäuden, die um einen Innenhof gruppiert waren, angelegt. In den drei Wohngebäuden standen Drei-, Zwei- und Ein-Zimmer-Wohnungen zur Verfügung. Die Wohnungen waren teilweise mit eigenem Bad ausgestattet, die meisten hatten jedoch nur eine individuelle Waschstelle. Je nach Grösse der Wohnung gab es eigenständige Küchen, ansonsten waren Schrankküchen vorhanden. Zudem gab es gemeinschaftliche Bäder und grössere Küchen mit Aufenthaltsbereichen. Die stark reduzierten Wohnungen waren räumlich gut organisiert und bedeuteten einen grossen Mehrwert für die alleinstehenden und berufstätigen Frauen, die dank der Frauenwohnkolonie eigenständig wohnen konnten.

Regelgrundrisse eines der Wohngebäude mit Ein-, Zwei- und Drei-Zimmerwohnungen und gemeinschaftliche Bereiche. Quelle: Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens.

Ergänzend zu den drei Wohngebäude gab es das im Komplex mittig angeordnete alkoholfreie Restaurant. Wenn nicht selbstständig gekocht wurde, konnten die Bewohnerinnen entweder im Restaurant essen oder sich die Mahlzeit in die Wohnung bestellen. Das Restaurant war auch für die Quartierbewohnerschaft zugänglich und war vor allem Ort des sozialen Austausches, da es zu jener Zeit für Frauen noch unsittlich war, sich allein in einem öffentlichen Restaurant aufzuhalten.

Alkoholfreies Restaurant mit Kleinwohnungen und gemeinschaftlichen Flächen im Obergeschoss. Quelle: Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens.

Das Kollektivhaus in Stockholm

Dank dem Speiseaufzug waren die küchenlosen Wohnungen direkt mit der Zentralküche verbunden. Quelle: Archithese (14/1975): Grosshaushalte.

Als eines der bekanntesten Einküchenhäuser zählt das Kollektivhaus John Ericsonsgaten in Stockholm, das trotz seinem Namen eindeutig zu den Einküchenhäuser gezählt werden kann. Gebaut 1935 vom späteren Stadtbaumeister Sven Markelius und zusammen konzipiert mit der Soziologin Alva Myrdal bietet das Kollektivhaus 50 Ein- bis Vierzimmerwohnungen, die keine eigene Küchen besassen, sondern einen Speiseaufzug mit einer direkten Verbindung zur Zentralküche im Erdgeschoss. Anders als noch bei frühen Einküchenhäuser lag der Fokus beim Kollektivhaus nun deutlich in den Gemeinschaftsräumen und der kollektiven Kindererziehung. So waren unterschiedliche geteilte Wohnräume wie eine Kinderkrippe, oder ein öffentliches Speiserestaurant im Angebot. Es war der Familie überlassen, ob sie die Mahlzeiten im Restaurant oder im eigenen Esszimmer in der Wohnung zu sich nehmen wollten. Weitere Dienste neben der Kinderbetreuung waren Reinigungs- und Wäscheservice.


In der Kinderkrippe gab es neben den Spielzimmern auch Säuglingsräume sowie Schlafräume für die Kinder. Quelle: Erwin Mühlestein.

Am Kollektivhaus John Ericsonsgatan lässt sich deutlich ausmachen, dass die anfänglich anvisierte Zielgruppe der Arbeiterschaft weder mit der Ideologie noch mit den Kosten dieser Wohnform erreicht werden konnten. Es wohnten vorwiegend Personen aus einer bürgerlichen Schicht im Kollektivhaus. Ihr Engagement galt dem Einküchenhaus als gesellschaftspolitisches Experiment zu emanzipatorischen Anliegen und zur Befreiung der Frau von der Hausarbeit. Das Kollektivhaus funktionierte über Jahrzehnte vollumfänglich. Erst ein verpasster Generationenwechsel führte dazu, dass zu wenige Kinder die gemeinschaftlichen Räume ausfüllten und belebten.

Erdgeschoss mit dem Speiserestaurant, der Zentralküche und der Kindertagesstätte.
Quelle: Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens.
Regelschoss mit den Kleinwohnungen und den Speiseaufzügen.
Quelle: Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens.

Wohnmodelle und ihre Nutzergruppen

In dieser Entwicklungsphase – ökonomische Intention – war vordringlichstes Motiv, bezahlbaren Wohnraum für noch nicht etabliert Nutzergruppen wie Ledige zu schaffen oder Wohnmodelle zu entwickeln, die nach dem Auflösen von jahrhundertealten Wohnverbunden eine neue Form von Wohnen, Arbeiten und Haushalten suchten. Diese Beweggründe brachten ein breites und lebendiges Spektrum an gemeinschaftlichen Wohnformen hervor. Mit der Zäsur des Zweiten Weltkrieges gingen ein grosser Teil dieser Wohnmodelle in Vergessenheit, die Kernfamilie etablierte sich. Dazu mehr im nächsten Teil.

Hintergründe zum gemeinschaftlichen Wohnen – Teil 1

Angestellte bereiten in der Zentralküche das Essen für die bürgerliche Bewohnerschaft vom ersten Einküchenhaus in Europa vor, dem Service House in Kopenhagen aus dem Jahr 1905. Die Zentralküche war mit Speiseaufzügen in das Anrichtezimmer der einzelnen küchenlosen Wohnungen verbunden. Quelle: Uhlig, Günther 1981: Kollekivmodell Einküchenhaus. Giessen: Anabas-Verlag.

Gastbeiträge zur Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnen
Susanne Schmid ist Partnerin bei Bürgi Schärer Architekten in Bern, sowie Autorin und Mitherausgeberin der Publikation «Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens». Sie hat für uns einen Abriss dieser Geschichte in fünf Beiträgen mit ausgewählten Beispielen geschrieben:

Teil 1 Historische Einordnung: Wie kollektive Wohnformen mit der industriellen Revolution zur Ausnahme wurden
Teil 2 Ökonomische Intentionen: Frauenwohnkolonien und Einküchenhäuser
Teil 3 Politische Intentionen: Architekten planen Gemeinschaft
Teil 4 Soziale Intentionen: Selbstorganisiertes Wohnen für neue Lebensformen
Teil 5 Ausblick: Warmbächli und andere neue Projekte

Danke vielmals Susanne für deine Inputs und deine Forschung zum Thema!

Einleitung

Mit dem Start zur Serie Hintergründe zum gemeinschaftlichen Wohnen möchte ich mich zuallererst für die Möglichkeit bedanken, hier Gastbeiträge schreiben zu dürfen. Einen Vortrag zum Thema musste leider aufgrund der aktuellen Lage verschoben werden. Umso schöner ist es, Ihnen das Thema des gemeinschaftlichen Wohnens auf diese Art und Weise näher zu bringen.

Nun könnte die momentane Aktualität des gemeinschaftlichen Wohnens dazu verleiten, diese Art zu Wohnen in unserer Gesellschaft als etabliert zu betrachten. In Tat und Wahrheit ist das gemeinschaftliche Wohnen ein Randphänomen (Wüstenrot Stiftung 1999: 128). Aber immerhin ein Randphänomen mit hoher Präsenz, da es zusammen mit grundlegenden Entwicklungen im Wohnungsbau seit Beginn des 21. Jahrhundert einhergeht. Nicht nur sich verändernde Lebens- und Haushaltsformen verändern das Wohnen, auch Themen wie Wohnflächenverbrauch und Suffizienz, oder Bezahlbarkeit und Nachhaltigkeit beeinflussen das Zusammenleben und den Wohnungsbau. Doch warum ist das gemeinschaftliche Wohnen seit der Industrialisierung immer eine betont andere und besondere Form des Wohnens? Dieser Frage wollen wir im ersten Eintrag nachgehen.

Vor der industriellen Revolution waren gemeinschaftliche Wohnformen der Normalfall

Die Familistère in Guise, erbaut 1859 nach den Plänen von André Godin, gilt als eine der wenigen Grosswohneinheiten der Frühsozialisten, die jahrzehntelang als gemeinschaftliche Versorgungseinheit für Wohnen und Arbeiten funktionierte und so bezahlbaren Wohnraum für die Arbeiterschaft bot. Quelle: Dos Santos, Jessica 2016: L’utopie en héritage. Tours: Presses universitaires François-Rabelais.

Mit der alltäglichen Praxis des Wohnens erfahren wir, dass unser Wissen zum Wohnen, auch zum gemeinschaftlichen Wohnen, ein Ergebnis aus gesellschaftlichen Prozessen ist, das durch ökonomische, aber auch politische und soziale Faktoren beeinflusst und gesteuert wird (Nierhaus/Nierhaus 2014: 12). Denn anders als heute war das gemeinschaftliche Wohnen in der Vormoderne die prägende Wohnform. Gemeinschaftliches Wohnen ist sozusagen unser wohnkulturelles Erbe. Das kollektive Zusammenleben und -wirtschaften war die vorherrschende Organisationsstruktur oder um es mit den Worten von Walter Siebel zu sagen: Man wohnte zusammen, weil man zusammen arbeitete (Siebel 2006: 45). Eingebettet in einen Wirtschafts- und Haushaltsverbund betätigten sich Frau, Mann und Kinder wie auch weitere Verwandte und Nichtverwandte, sowie Angestellte, an dieser Selbstversorgungseinheit. Eine räumliche Abtrennung, oder Privatsphäre war in der Regel nicht vorhanden.

Erst mit der privaten Verfügungsgewalt über Grund und Boden im späten 18. Jahrhundert wurde die Voraussetzung für eine Trennung zwischen privaten und kollektiven Räumen und Wohnfunktionen gezogen. Nichtverwandte Personen wurden separat untergebracht, es entwickelte sich das bürgerliche Wohnen und mit ihm die Privatheit (Petsch 1989: 11, 25ff).

Ledigenheime, Appartementhäuser und Einküchenhäuser

Der gemeinschaftliche Speisesaal von Homesgarth House in der Letchworth Garden City, der englischen Gartenstadt geprägt durch Ebenezer Howard. Die einzelnen Wohnungen hatten keine individuelle Küche. Quelle: Garden City Collection

Gesellschaftliche Umwälzungen, hervorgebracht durch die industrielle Revolution ab Mitte des 19. Jahrhunderts, veränderten die Organisationsstrukturen des Wohnens weiter massgeblich. Die Trennung von Arbeit und Wohnen löste nicht nur jahrhundertalte Arbeits- und Lebensgemeinschaften auf, sondern verstärkte die Mobilität. Menschen strömten in die Städte und waren von nun an auf Lohnarbeit und einer angemessenen Wohnmöglichkeit angewiesen. Wohnungsknappheit und teilweise prekäre Lebens- und Wohnverhältnisse in mitteleuropäischen Städten waren das Ergebnis. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts führten diese Missstände zu einer breiten sozialpolitischen Debatte, in der die Wohnungsfrage diskutiert wurde und die insbesondere im gemeinschaftlichen Wohnungsbau Anlass war für neuartige Entwicklungen wie Gartenstädte oder Ledigenheime, Appartementhäuser und Einküchenhäuser.

Ein funktional eingerichtetes Einzelzimmer im Ledigenheim Rehhoffstrasse in Hamburg, das vor allem für Männer bezahlbaren Wohnraum bietete. Das Ledigenheim entstand 1913 und ist heute noch in Betrieb. Neben einer Gaststätte mit Speisezimmer und Lesesaal gab es gemeinschaftliche Waschräume und Nasszelle sowie ein Billiardzimmer. Quelle: Hamburgisches Architekturarchiv

So herrschte schlussendlich zu Beginn des 20. Jahrhundert eine vielfältige Palette an gemeinschaftlichen Wohnformen, dank denen nicht nur bezahlbaren und hygienischen Wohnraum zur Verfügung gestellt, sondern das Haushalten rationalisiert und kollektiviert wurde, um Familie und Beruf besser zu vereinbaren. Es galt zu dieser Zeit vor allem das ökonomische Motiv, Wohnraum miteinander zu teilen.

Schlichte Kleinwohnung mit funktionaler Einrichtung im Isokon Building in London, einem Boardinghaus für Stadtnomaden erstellt 1933. Boardinghäuser wie auch Appartementhäuser waren für eine Bewohnerschaft ohne Kinder gedacht. Quelle: Cantacuzino, Serban 1978: Wells Coates, A Monograph.

Wie sich die heutigen gemeinschaftlichen Wohnformen wie Grosshaushalte oder Clusterwohnungen in diese Historie einbetten, kann nun seit der Industrialisierung anhand der Entwicklungslinie der kollektiven Wohnformen aufgezeigt werden. Dazu mehr im nächsten Eintrag.

Literatur
Nierhaus, Irene; Nierhaus Andreas (Hrsg.) 2014: Wohnen zeigen, Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur. Bielefeld: Transcript Verlag.
Petsch, Joachim 1989: Eigenheim und gute Stube, Zur Geschichte des bürgerlichen Wohnens. Köln: Dumont.
Siebel, Walter 2006: Zukunft des Wohnens. in ARCH+ 176/177: 05/2006
Wüstenrot Stiftung (Hrsg.) 1999: Neue Wohnformen. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.