Sozialdemokratische und bürgerliche Frauenbewegungen förderten durch neue Wohnformen eine bessere Vereinbarung von Beruf, Familie und Haushalt. Hier ein Podium beim 1. Internationalen Frauenkongress 1915 in Den Haag mit Rosika Schwimmer (Vierte von links), die als Vordenkerin der Einküchenhäuser gilt. Quelle: Bestand AddF, Kassel.
Gastbeiträge zur Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnen
Susanne Schmid ist Partnerin bei Bürgi Schärer Architekten in Bern, sowie Autorin und Mitherausgeberin der Publikation «Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens». Sie hat für uns einen Abriss dieser Geschichte in fünf Beiträgen mit ausgewählten Beispielen geschrieben:
– Teil 1 Historische Einordnung: Wie kollektive Wohnformen mit der industriellen Revolution zur Ausnahme wurden
– Teil 2 Ökonomische Intentionen: Frauenwohnkolonien und Einküchenhäuser
– Teil 3 Politische Intentionen: Architekten planen Gemeinschaft
– Teil 4 Soziale Intentionen: Selbstorganisiertes Wohnen für neue Lebensformen
– Teil 5 Ausblick: Warmbächli und andere neue Projekte
Danke vielmals Susanne für deine Inputs und deine Forschung zum Thema!
Die Intentionen des gemeinschaftlichen Wohnens
Wohnräume werden aus zahlreichen Gründen geteilt, in denen ökonomische, politische und soziale Faktoren immer eine wichtige Rolle spielen. Diese Faktoren werden jedoch je nach Zeitpunkt und Zielsetzung des Wohnmodells unterschiedlich gewichtet. Auch überschneiden sich diese, so dass eine genau Zuordnung nicht vorgenommen werden kann. Und dennoch tritt jeweils eine Intention aufgrund des vorherrschenden Zeitgeistes und den damaligen wohnpolitischen Entwicklungen in den Vordergrund.
Die Ursprünge des gemeinschaftlichen Wohnens seit der Industrialisierung liegen wohl in der ökonomischen Intention. Wie die Beispiele vom letzten Eintrag zeigen, war zwischen 1825 bis 1940 zentrales Motiv neben dem Bereitstellen von genügend Wohnraum insbesondere die Entlastung der Hausarbeit, spricht die Verringerung der Doppelbelastung der erwerbstätigen Frau. Das gemeinschaftliche Wohnen zeigte sich vor allem in der Zentralisierung und Rationalisierung und im Teilen von Serviceleistungen. Die sich verändernde gesellschaftliche Rolle der Frau war oft die treibende Kraft hinter den Wohnmodellen, insbesondere der Ledigenheime und Einküchenhäusern.
Die Frauenwohnkolonie in Zürich
In Zürich beispielsweise ergriff schon relativ früh in dieser Entwicklung eine bürgerlich orientierte Frauenbewegung die Initiative zur Gründung der Frauenwohnkolonie Lettenhof, die 1927 von der Architektin Lux Guyer realisiert wurde. Der Lettenhof wurde als Komplex mit vier Gebäuden, die um einen Innenhof gruppiert waren, angelegt. In den drei Wohngebäuden standen Drei-, Zwei- und Ein-Zimmer-Wohnungen zur Verfügung. Die Wohnungen waren teilweise mit eigenem Bad ausgestattet, die meisten hatten jedoch nur eine individuelle Waschstelle. Je nach Grösse der Wohnung gab es eigenständige Küchen, ansonsten waren Schrankküchen vorhanden. Zudem gab es gemeinschaftliche Bäder und grössere Küchen mit Aufenthaltsbereichen. Die stark reduzierten Wohnungen waren räumlich gut organisiert und bedeuteten einen grossen Mehrwert für die alleinstehenden und berufstätigen Frauen, die dank der Frauenwohnkolonie eigenständig wohnen konnten.
Ergänzend zu den drei Wohngebäude gab es das im Komplex mittig angeordnete alkoholfreie Restaurant. Wenn nicht selbstständig gekocht wurde, konnten die Bewohnerinnen entweder im Restaurant essen oder sich die Mahlzeit in die Wohnung bestellen. Das Restaurant war auch für die Quartierbewohnerschaft zugänglich und war vor allem Ort des sozialen Austausches, da es zu jener Zeit für Frauen noch unsittlich war, sich allein in einem öffentlichen Restaurant aufzuhalten.
Das Kollektivhaus in Stockholm
Als eines der bekanntesten Einküchenhäuser zählt das Kollektivhaus John Ericsonsgaten in Stockholm, das trotz seinem Namen eindeutig zu den Einküchenhäuser gezählt werden kann. Gebaut 1935 vom späteren Stadtbaumeister Sven Markelius und zusammen konzipiert mit der Soziologin Alva Myrdal bietet das Kollektivhaus 50 Ein- bis Vierzimmerwohnungen, die keine eigene Küchen besassen, sondern einen Speiseaufzug mit einer direkten Verbindung zur Zentralküche im Erdgeschoss. Anders als noch bei frühen Einküchenhäuser lag der Fokus beim Kollektivhaus nun deutlich in den Gemeinschaftsräumen und der kollektiven Kindererziehung. So waren unterschiedliche geteilte Wohnräume wie eine Kinderkrippe, oder ein öffentliches Speiserestaurant im Angebot. Es war der Familie überlassen, ob sie die Mahlzeiten im Restaurant oder im eigenen Esszimmer in der Wohnung zu sich nehmen wollten. Weitere Dienste neben der Kinderbetreuung waren Reinigungs- und Wäscheservice.
Am Kollektivhaus John Ericsonsgatan lässt sich deutlich ausmachen, dass die anfänglich anvisierte Zielgruppe der Arbeiterschaft weder mit der Ideologie noch mit den Kosten dieser Wohnform erreicht werden konnten. Es wohnten vorwiegend Personen aus einer bürgerlichen Schicht im Kollektivhaus. Ihr Engagement galt dem Einküchenhaus als gesellschaftspolitisches Experiment zu emanzipatorischen Anliegen und zur Befreiung der Frau von der Hausarbeit. Das Kollektivhaus funktionierte über Jahrzehnte vollumfänglich. Erst ein verpasster Generationenwechsel führte dazu, dass zu wenige Kinder die gemeinschaftlichen Räume ausfüllten und belebten.
Wohnmodelle und ihre Nutzergruppen
In dieser Entwicklungsphase – ökonomische Intention – war vordringlichstes Motiv, bezahlbaren Wohnraum für noch nicht etabliert Nutzergruppen wie Ledige zu schaffen oder Wohnmodelle zu entwickeln, die nach dem Auflösen von jahrhundertealten Wohnverbunden eine neue Form von Wohnen, Arbeiten und Haushalten suchten. Diese Beweggründe brachten ein breites und lebendiges Spektrum an gemeinschaftlichen Wohnformen hervor. Mit der Zäsur des Zweiten Weltkrieges gingen ein grosser Teil dieser Wohnmodelle in Vergessenheit, die Kernfamilie etablierte sich. Dazu mehr im nächsten Teil.
Ein Gedanke zu „Hintergründe zum gemeinschaftlichen Wohnen – Teil 2“
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