Angestellte bereiten in der Zentralküche das Essen für die bürgerliche Bewohnerschaft vom ersten Einküchenhaus in Europa vor, dem Service House in Kopenhagen aus dem Jahr 1905. Die Zentralküche war mit Speiseaufzügen in das Anrichtezimmer der einzelnen küchenlosen Wohnungen verbunden. Quelle: Uhlig, Günther 1981: Kollekivmodell Einküchenhaus. Giessen: Anabas-Verlag.
Gastbeiträge zur Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnen
Susanne Schmid ist Partnerin bei Bürgi Schärer Architekten in Bern, sowie Autorin und Mitherausgeberin der Publikation «Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens». Sie hat für uns einen Abriss dieser Geschichte in fünf Beiträgen mit ausgewählten Beispielen geschrieben:
– Teil 1 Historische Einordnung: Wie kollektive Wohnformen mit der industriellen Revolution zur Ausnahme wurden
– Teil 2 Ökonomische Intentionen: Frauenwohnkolonien und Einküchenhäuser
– Teil 3 Politische Intentionen: Architekten planen Gemeinschaft
– Teil 4 Soziale Intentionen: Selbstorganisiertes Wohnen für neue Lebensformen
– Teil 5 Ausblick: Warmbächli und andere neue Projekte
Danke vielmals Susanne für deine Inputs und deine Forschung zum Thema!
Einleitung
Mit dem Start zur Serie Hintergründe zum gemeinschaftlichen Wohnen möchte ich mich zuallererst für die Möglichkeit bedanken, hier Gastbeiträge schreiben zu dürfen. Einen Vortrag zum Thema musste leider aufgrund der aktuellen Lage verschoben werden. Umso schöner ist es, Ihnen das Thema des gemeinschaftlichen Wohnens auf diese Art und Weise näher zu bringen.
Nun könnte die momentane Aktualität des gemeinschaftlichen Wohnens dazu verleiten, diese Art zu Wohnen in unserer Gesellschaft als etabliert zu betrachten. In Tat und Wahrheit ist das gemeinschaftliche Wohnen ein Randphänomen (Wüstenrot Stiftung 1999: 128). Aber immerhin ein Randphänomen mit hoher Präsenz, da es zusammen mit grundlegenden Entwicklungen im Wohnungsbau seit Beginn des 21. Jahrhundert einhergeht. Nicht nur sich verändernde Lebens- und Haushaltsformen verändern das Wohnen, auch Themen wie Wohnflächenverbrauch und Suffizienz, oder Bezahlbarkeit und Nachhaltigkeit beeinflussen das Zusammenleben und den Wohnungsbau. Doch warum ist das gemeinschaftliche Wohnen seit der Industrialisierung immer eine betont andere und besondere Form des Wohnens? Dieser Frage wollen wir im ersten Eintrag nachgehen.
Vor der industriellen Revolution waren gemeinschaftliche Wohnformen der Normalfall
Mit der alltäglichen Praxis des Wohnens erfahren wir, dass unser Wissen zum Wohnen, auch zum gemeinschaftlichen Wohnen, ein Ergebnis aus gesellschaftlichen Prozessen ist, das durch ökonomische, aber auch politische und soziale Faktoren beeinflusst und gesteuert wird (Nierhaus/Nierhaus 2014: 12). Denn anders als heute war das gemeinschaftliche Wohnen in der Vormoderne die prägende Wohnform. Gemeinschaftliches Wohnen ist sozusagen unser wohnkulturelles Erbe. Das kollektive Zusammenleben und -wirtschaften war die vorherrschende Organisationsstruktur oder um es mit den Worten von Walter Siebel zu sagen: Man wohnte zusammen, weil man zusammen arbeitete (Siebel 2006: 45). Eingebettet in einen Wirtschafts- und Haushaltsverbund betätigten sich Frau, Mann und Kinder wie auch weitere Verwandte und Nichtverwandte, sowie Angestellte, an dieser Selbstversorgungseinheit. Eine räumliche Abtrennung, oder Privatsphäre war in der Regel nicht vorhanden.
Erst mit der privaten Verfügungsgewalt über Grund und Boden im späten 18. Jahrhundert wurde die Voraussetzung für eine Trennung zwischen privaten und kollektiven Räumen und Wohnfunktionen gezogen. Nichtverwandte Personen wurden separat untergebracht, es entwickelte sich das bürgerliche Wohnen und mit ihm die Privatheit (Petsch 1989: 11, 25ff).
Ledigenheime, Appartementhäuser und Einküchenhäuser
Gesellschaftliche Umwälzungen, hervorgebracht durch die industrielle Revolution ab Mitte des 19. Jahrhunderts, veränderten die Organisationsstrukturen des Wohnens weiter massgeblich. Die Trennung von Arbeit und Wohnen löste nicht nur jahrhundertalte Arbeits- und Lebensgemeinschaften auf, sondern verstärkte die Mobilität. Menschen strömten in die Städte und waren von nun an auf Lohnarbeit und einer angemessenen Wohnmöglichkeit angewiesen. Wohnungsknappheit und teilweise prekäre Lebens- und Wohnverhältnisse in mitteleuropäischen Städten waren das Ergebnis. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts führten diese Missstände zu einer breiten sozialpolitischen Debatte, in der die Wohnungsfrage diskutiert wurde und die insbesondere im gemeinschaftlichen Wohnungsbau Anlass war für neuartige Entwicklungen wie Gartenstädte oder Ledigenheime, Appartementhäuser und Einküchenhäuser.
So herrschte schlussendlich zu Beginn des 20. Jahrhundert eine vielfältige Palette an gemeinschaftlichen Wohnformen, dank denen nicht nur bezahlbaren und hygienischen Wohnraum zur Verfügung gestellt, sondern das Haushalten rationalisiert und kollektiviert wurde, um Familie und Beruf besser zu vereinbaren. Es galt zu dieser Zeit vor allem das ökonomische Motiv, Wohnraum miteinander zu teilen.
Wie sich die heutigen gemeinschaftlichen Wohnformen wie Grosshaushalte oder Clusterwohnungen in diese Historie einbetten, kann nun seit der Industrialisierung anhand der Entwicklungslinie der kollektiven Wohnformen aufgezeigt werden. Dazu mehr im nächsten Eintrag.
Literatur
Nierhaus, Irene; Nierhaus Andreas (Hrsg.) 2014: Wohnen zeigen, Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur. Bielefeld: Transcript Verlag.
Petsch, Joachim 1989: Eigenheim und gute Stube, Zur Geschichte des bürgerlichen Wohnens. Köln: Dumont.
Siebel, Walter 2006: Zukunft des Wohnens. in ARCH+ 176/177: 05/2006
Wüstenrot Stiftung (Hrsg.) 1999: Neue Wohnformen. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.
Ein Gedanke zu „Hintergründe zum gemeinschaftlichen Wohnen – Teil 1“
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