Hintergründe zum gemeinschaftlichen Wohnen – Teil 4

Mit der sozialen Intention wird das gemeinschaftliche Wohnen kommunikativer, vernetzter und vielfältiger, hier sichtbar am Beispiel des Kollektivhauses Färdknäppen in Stockholm.
Quelle: Kerstin Kärnekull.

Gastbeiträge zur Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnen
Susanne Schmid ist Partnerin bei Bürgi Schärer Architekten in Bern, sowie Autorin und Mitherausgeberin der Publikation «Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens». Sie hat für uns einen Abriss dieser Geschichte in fünf Beiträgen mit ausgewählten Beispielen geschrieben:

Teil 1 Historische Einordnung: Wie kollektive Wohnformen mit der industriellen Revolution zur Ausnahme wurden
Teil 2 Ökonomische Intentionen: Frauenwohnkolonien und Einküchenhäuser
Teil 3 Politische Intentionen: Architekten planen Gemeinschaft
Teil 4 Soziale Intentionen: Selbstorganisiertes Wohnen für neue Lebensformen
Teil 5 Ausblick: Warmbächli und andere neue Projekte

Danke vielmals Susanne für deine Inputs und deine Forschung zum Thema!

Gemeinschaftliches Wohnen wird zum Ausdruck von sich veränderten Sozialbeziehungen

Ab den 1970er-Jahren wird erstmals Kommunikation, also ein soziales Motiv des Teilens, als Bedürfnis beim gemeinschaftlichen Wohnen genannt (Meyer-Ehlers, Haussknecht, Rughöft 1973: 230). So trat der deutliche Wunsch nach Gemeinschaftlichkeit erst mit der vorerst letzten Phase der sozialen Intention in den Vordergrund, die mit neuen Wohnmodellen um rund 1980 startete und bis heute anhält. Gemeinschaftliches Wohnen wird in dieser sich weiterhin diversifizierenden Entwicklungsphase kommunikativer, vernetzter und vielfältiger. Nicht nur die Nutzergruppen des gemeinschaftlichen Wohnens werden bunter, sondern auch die angebotenen gemeinschaftlichen Wohnräume und Ausstattungen. Dabei können die gemeinschaftlichen Wohnmodelle wie folgt gegliedert werden: Wohn- und Kulturprojekte als Ausdruck der Gemeinschaft, Grosshaushalte und Clusterwohnungen mit zusätzlichen Serviceleistungen sowie Co-Living als vernetztes und dezentrales Wohnen.

Teilhabe und Teilnahme als Programm


Blick in den gemeinschaftlichen Esssaal des Grosshaushaltes Karthago in Zürich.
Quelle: Arazebra, Zürich.

Mit der sozialen Intention wurde nun gemeinschaftliches Wohnen erstmals zum Ausdrucksmittel für flexible Sozialbeziehungen und mehr Mitbestimmung. Die Wohnobjekte sind meist selbstorganisiert, die Bewohnerschaft nimmt Einfluss auf die Ausformulierung der Wohnform und -typologie. Zudem kam ab den 1970er- und 1980er-Jahren das Bedürfnis auf, aus der familiären Isolation auszubrechen, was zu veränderten und diversifizierenden Lebens- und Wohnformen führte. Weitere Parameter, die das Wohnen in Gemeinschaft stärken, waren der Wunsch nach Suffizienz und einem bedarfsgerechten Umgang mit der Ressource Wohnraum sowie neue Arbeitsweisen dank der Digitalisierung. Geteilt werden nun nicht nur ein breites Angebot an gemeinschaftlichen Räumen für die Freizeitbeschäftigung wie Werkstätte, Saunas oder Fotolabore, sondern wiederum Grundausstattungen wie Gemeinschaftsküchen und Nasszellen. Gästezimmer, Flex-Zimmer oder Waschbars sind prägend für diese Entwicklungsphase. Zudem erhalten die Serviceleistungen, nachdem diese in der Phase der politischen Intention gänzlich verschwanden, aufs Neue eine hohe Wichtigkeit.

Diese Komplexität an unterschiedlichen Stufen des Teilens führt denn auch dazu, dass das gemeinschaftliche Zusammenleben oft mittels einer professionellen Betriebsstruktur und mit Hilfe einer Desk oder Rezeption kuratiert wird. Partizipative Prozesse der Teilhabe und Teilnahme sorgen zudem dafür, dass die Wohnmodelle und deren Organisation auf die Bedürfnisse der Nutzerschaft angepasst werden. Zu erwähnen gilt noch, dass die Nutzergruppen vorwiegend aus dem Bildungsmilieu stammen. Da sich insbesondere Grosshaushalte und Clusterwohnungen gut in grössere Siedlungen einstreuen lassen, eignet sich zudem ein Zusammenspiel von unterschiedlichen Wohnmodellen, kombiniert mit konventionellen Wohnungen, auch gut als Generationenwohnen.

Grosshaushalte – der erkämpfte Freiraum

Grosshaushalt mit Kleinküche und gemeinschaftlichem Aufenthaltsbereich.
Quelle: gta Archiv / ETH Zürich.

Mit den Grosshaushalten werden erstmals seit den Zwischenkriegsjahren wieder Wohnungen ohne individuell nutzbare Küchen gebaut. Kurz vor der Jahrtausendwende erscheint ein gemeinschaftliches Wohnmodell, das den privaten Raum wieder stark reduziert und die Grundausstattung kollektiviert. Beim Prinzip der Grosshaushalte werden dabei Funktionen wie Kochen, Essen und Aufenthalt in gemeinschaftlichen Räumen mit unterschiedlichen Öffentlichkeitsgraden ausgelagert.

Aus einer Jugendbewegung der 1980er-Jahre heraus, die mehr bezahlbaren Wohnraum sowie Freiraum für junge Personen forderte, entwickelte sich in Zürich der Grosshaushalt Karthago, der nach einer langen Entwicklungsphase 1997 realisiert wurde. Als Bauträgerin dient eine Genossenschaft. Im Grosshaushalt Karthago werden vier kleine und fünf grosse Wohngruppen sowie eine Mansardenwohnung angeboten, in denen rund 55 Personen wohnen. Die Wohngruppen sind unterteilt in Drei-, Vier- oder Sechszimmereinheiten, die sich um einen gemeinschaftlichen Wohn- und Essraum mit Kleinküche und gemeinschaftlicher Nasszelle formieren. Einzig das individuelle Zimmer wird nicht geteilt, ist jedoch durch die kollektive Fläche erschlossen. Ausserhalb dieser Wohngruppe befinden sich weitere ergänzende Ausstattungen und gemeinschaftliche Wohnräume wie eine Grossküche mit Essraum (gekocht wird von einer Köchin), einem Spiel- und Aufenthaltsraum, einem Gästezimmer, einem Werkraum, einem Gemeinschaftsbüro sowie zwei Musikräumen.

Das Erdgeschoss ist gänzlich gemeinschaftlich organisiert. In den Regelschossen werden je zwei Grosshaushalte angeboten, mit unterschiedlich grossen individuellen Zimmern.
Quelle: Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens.

Clusterwohnungen – die Wohngemeinschaft plus

Ein Optionsraum bei der Siedlung Spreefeld in Berlin.
Quelle: Andrea Kroth.

Erste Clusterwohnungen haben ihren Ursprung ebenfalls in den 1980er-Jahren, die Typologie wird jedoch erst ab den 2010er-Jahren wahrgenommen. Ähnlich der Grosshaushalte ist auch bei den Clusterwohnungen prägendes Element die Reduktion des privaten Wohnraums einhergehend mit einer Kompensation durch gemeinschaftliche Räume. Bei Clusterwohnungen bilden Teil-Wohneinheiten zusammen mit den gemeinschaftlichen Räumen wie Gemeinschaftsküche oder Aufenthaltsbereiche eine voll ausgestattete Einheit. Typologisch gesehen haben die Cluster eine hotelähnliche Struktur, da diese mit einer Vorzone oft mit Kleinküche und individueller Nasszelle ausgestattet sind. Mit dieser Vorzone wird zugleich ein Schwellenraum geschaffen, der zwischen den kollektiven und privaten Flächen vermittelt.

Wohnbereich einer Clusterwohnung.
Quelle: Andrea Kroth.

Während das Konzept der Clusterwohnungen auch als komfortable Wohngemeinschaft deklariert werden kann, sprechen die Initiatoren der Siedlung Spreefeld in Berlin von einem spartanischen Ausstattungsstandard. Das ebenfalls genossenschaftlich organisierte Spreefeld bietet seit dem Jahr 2014 für rund 140 Personen variantenreiche Wohnräume. Dabei ist rund die Hälfte der Wohnungen konventionelle Ein- bis Fünfzimmerwohnungen. Auffallend sind jedoch die Clusterwohnungen, die in diesem Objekt grösser ausfallen als bei Projekten in der Schweiz. Dies aufgrund der Anzahl Cluster sowie deren Fläche, die jeweils an die gemeinschaftlichen Räume angegliedert sind. Während bei uns meist sechs oder sieben Cluster um die gemeinschaftlichen Flächen angeordnet werden, sind es bei der Siedlung Spreefeld deren neun. Zudem verlaufen die Clusterwohnungen jeweils über zwei Geschosse. Ebenfalls neu ist bei der Siedlung Spreefeld, dass Clusterwohnungen mit drei oder vier Zimmer angeboten werden, üblich sind jeweils ein oder zwei Zimmer pro Cluster.

Als Ergänzung für die gesamte Siedlung dienen gemeinschaftliche Räume wie Co-Working Spaces, Gästezimmer, ein Musik- und Jugendraum, ein Fitnessraum, eine Waschküche sowie Dachterrasse oder die sogenannten Optionsräume, die nicht nur der Bewohnerschaft, sondern der gesamten Quartierbevölkerung für diverse temporäre Nutzungen zur Verfügung stehen (LaFond/Tsvetkova 2017: 38).

1. Obergeschoss der Siedlung Spreefeld
2. Obergeschoss der Siedlung Spreefeld: Hier wird ersichtlich, wie sich die Clusterwohnungen über zwei Geschosse formulieren.
Quelle: Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens.

Co-Living – die kreativen Knotenpunkte

Co-Working Bereich beim Co-Living Old Oak in London, der öffentlich zugänglich ist.
Quelle: The Collective.

Schon Grosshaushalte und Clusterwohnungen zeigen erste Ansätze zu einem räumlich verteilten Wohnen, bei dem der individuelle Raum durch Nutzungsoptionen und mögliche Serviceleistungen vielfältig und flexibel ergänzt wird. Beim Co-Living verteilen sich gemeinschaftliche Wohnräume und Funktionen nun weiter, zudem wird das Wohnen wiederum in Verflechtung mit Arbeiten wahrgenommen. Dieses erweiterte Verständnis des Wohnens lässt vermuten, dass die Bewohnerschaft heterogener wird. Erste realisierte Projekte ab den 2010er-Jahren deuten allerdings auf eine sehr homogene Nutzerschaft hin, besonders junge Berufstätige, sogenannte Yuppies (young urban professionals) finden dieses Wohnmodell attraktiv und nutzen es, um sich in einer Stadt anzusiedeln und dort in der Gemeinschaft zu leben.

Private Wohneinheit mit Kleinküche.
Quelle: The Collective.

Typologisch ist das Co-Living den Clusterwohnungen ähnlich, da wiederum hotelähnliche und reduzierte Wohneinheiten den privaten Wohnbereich bilden. Ebenso ist eine Rückbesinnung auf die Boarding- und Apartmenthäuser aus dem frühen 20. Jahrhundert spürbar, denn die gemeinschaftlichen Räume werden zu vernetzten Knotenpunkte, in denen die oft international ausgerichtete Bewohnerschaft die Balance zwischen dem reduzierten privaten Raum und den umfangreichen angebotenen Serviceleistungen findet.

Mit dem Co-Living Old Oak realisierte die Organisation The Collective im Jahr 2016 ihr erstes Wohnbauprojekt in London. Bisher betrieb die Organisation ausschliesslich Co-Working Places, weitere Projekte in Verbindung mit Co-Living sind jedoch in Planung. Das Co-Living Old Oak wurde als eines der wenigen Co-Living Projekte als Neubau konzipiert und stellt Wohnfläche für rund 550 Personen zur Verfügung. Es werden unterschiedliche individuelle Wohneinheiten angeboten, wobei die meisten zu der kollektiven Erschliessungsfläche hin eine vorgelagerte Zwischenzone mit Nasszelle und Kleinküche aufweisen. Die private Wohnfläche wird möbliert vermietet.

Beim Regelschoss im Old Oak wird die hotelähnliche Typologie sichtbar.
Quelle: Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens.
Das Erdgeschoss beim Old Oak ist wiederum gemeinschaftlich organisiert, im Vergleich zum Grosshaushalt Karthago jedoch öffentlich zugänglich.
Quelle: Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens.

Es gibt umfangreiche ergänzende gemeinschaftliche Flächen wie Gemeinschaftsküchen mit Ess- und Aufenthaltsbereichen auf jedem Geschoss, die bei Bedarf für private Anlässe genutzt werden können. Im Weiteren finden sich verteilt über die Geschosse eine Bibliothek, einen Raum der Stille, ein Kino, ein Game Room, ein Spa und eine Waschküche. Im Erdgeschoss als öffentlichster Bereich werden ein Restaurant, einen Eventraum, ein Fitnessstudio sowie die Co-Working Places angeboten.

Literatur

LaFond, Michael; Tsvetkova, Larisa 2017: CoHousing Inclusive, Selbstorganisiertes, gemeinschaftliches Wohnen für alle. Berlin: Jovis Verlag.
Meyer-Ehlers, Grete; Haussknecht, Meinhold; Rughöft Sigrid 1973: Kollektive Wohnformen, Erfahrungen, Vorstellungen, Raumbedürfnisse in Wohngemeinschaften, Wohngruppen und Wohnverbänden. Wiesbaden: Bauverlag.

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